Der wohl häufigste Fall liegt vor, wenn ein Komponst Themen und Motive aus dem Werk eines anderen Komponisten aufgreift, um sie zu variieren oder in einen neuen Ordnungszusammenhang zu stellen, z.B. in Form einer Variation oder Fantasien „über ein Thema von…“. James Barnes virtuos angelegte „Fantasie-Variationen über ein Thema von Paganini“ sind ein Paradebeispiel dieser Art von Musik über andere Musik. Als bedeutende Originalkomposition der Bläsersinfonik stehen die Variationen in einer Linie mit den Arbeiten Franz Liszt, Johannes Brahms oder Sergej Rachmaninow, die Paganinis Thema der 24. Capriccio in a-Moll aufgreifen und fantasievoll verarbeiten. Barnes 20 Variationen reichen dabei im zartem Adagio oder flinken Presto von kraftvollen Tutti-Passagen über kleinere Ensemble-Besetzungen bis hin zu sehr solistischen Abschnitten.
Eine andere, weit verbreitete musikalische Praxis besteht in der Verarbeitung fremder Werke in Form des Arrangements. Als (sinfonisches) Blasorchester setzt man sich ja per se mit diesem Thema auseinander, denn ursprünglich adaptierte das Blasmusik-Wesen um 1900 vielfach die klassische Musik, bis namhafte Komponisten wie Gustav Holst, Ralph Vaughan Williams oder Ottorino Respighi erstmals Originalkompositionen für diesen Klangkörper schrieben. Infolgedessen gibt es sicherlich eine Vielzahl von Bearbeitungen, deren Entstehung in erster Linie dem Bedürfnis nach Spiel-Literatur aber auch (in zunehmenden Maße in der heutigen Zeit) des Musikmarktes zu verdanken sind, jedoch sind dabei die Grenzen von der mechanischen Uminstrumentierung des Originals bis hin zur völligen klanglichen und strukturellen Neugestaltung mit eigenschöpferischem Anteil fließend. Wohl deutlich mehr als bloße Spielliteratur zu verstehen ist Donald Hunsbergers farbintensives Arrangement des Klavierstücks „Hommage à Rameau“ von Claude Debussy, der seinerseits in seiner Komposition im Stil einer Sarabande dem französischen Komponisten und Musiktheoretiker Jean-Philippe Rameau huldigt. Schöpfte Debussy bereits für seine Zeit mit seiner Sammlung „Images“, aus dem die Hommage stammt, neue Klangfarben und Ausdrucksmöglichkeiten am Klavier aus, so weiß Hunsberger diese mit den klanglichen Mitteln eines sinfonischen Blasorchesters überzeugend zu übertragen.
Als Eröffnungsstück erklingt im Konzert die minimalistisch anmutende, in Teilen auch programmatisch zu verstehende Komposition „Aurora awakes“ des zeitgenössischen amerikanischen Komponisten John Mackey. Inspiriert von der mythologischen Figur der Aurora als Göttin der Morgenröte beschreibt die Komposition das Erwachen der Natur. Mackey webt dabei zum einen das Songprägende Gitarrenriff aus „Where The Streets Have No Name“ der Rockgruppe U2 als Bass-Ostinato und Gustav Holst’s Harmonik der Chaconne aus der „First Suite in Es“ ein. Damit zeigt die Komposition beispielhaft, wie im 20. Jahrhundert die künstlerische Auseinandersetzung mit der Musik der Vorgänger und Zeitgenossen zunehmend komplexer wird. So können einzelne Motivsplitter, Akkordverbindungen, rhythmische Strukturen oder formale Eigenheiten einer anderen Komposition für den Komponisten Initialzündung einer eigenen Neuschöpfung werden.
Das Hauptwerk des Konzertes ist letztlich ähnlich einzuordnen, da es eine Huldigung an die Form der Sinfonie darstellt. James Barnes schreibt über seine neunte Sinfonie – nach eigenen Aussagen seine letzte -, dass er in ihr all das verarbeitet habe, was er musikalisch gelernt haben will. Das knapp 40 minütige Werk spannt dabei seinen Bogen von einer farbenreichen Elegie im ersten Satz über ein humoristisches, geradezu ironisches und damit konstrastiernd angelegtes Scherzo im zweiten und einer Nachtmusik „wie von einer anderen Welt“ im dritten Satz. Das Finale schließt ganz in der Manier des Komponisten mit großer Geste und überschäumender Freude diese neue, neunte Sinfonie, die als deutsche Erstaufführung erklingen wird.
Mit zwei weiteren Werken, Marco Pützs „Schattengänge“ und Villa-Lobos Aria aus den „Bachianas brasileiras Nr. 5“ wird zudem ein weiteres Prinzip künstlerischer Auseinandersetzung deutlich: Komponisten versuchen mitunter den persönlichen Stil eines anderen nachzuahmen oder Stilmerkmale bewusst zu reflektieren, diese mit dem eigenen Kompositionsstil gar verschmelzen zu lassen. Dies geschieht unter anderem häufig in Form von Huldigungs- oder Gedenkkompostionen, in denen Stilmerkmale, Zitate oder die vertonten Tonbuchstaben des zu ehrenden Komponisten eine besondere Rolle spielen. Marco Pütz unternimmt in „Schattengänge“ als Auftragskomposition des DMR zum Beethovenjahr 2020 den Versuch – sich stets im Bewusstsein im Schatten Ludwig van Beethovens zu bewegen -, dem berühmten 2. Satz seiner 7. Sinfonie zu nähern. Das Spektrum reicht dabei von Zitaten über thematisch-harmonische Verfremdungen, bis zu farbigen Orchestrierungen und frei komponierten Episoden.
Der brasilianische Komponist Heitor Villa-Lobos ist vor allem durch seine „Bachiana Brasileiras“ bekannt geworden, in denen er auf geradezu betörende Weise eigenschöpferisch brasilianische Folklore mit den melodischen Linien und der Kontrapunktik Johann Sebastian Bachs als Huldigung vermischt.
(Jens Schröer)